LIEBE LESERINNEN, LIEBE LESER, der Wert eines Netzwerks zeigt sich besonders in schwierigen Zeiten. FINE hat schon immer quer durch die Weinwelt gute Beziehungen gepflegt, und davon profitieren jetzt nicht zuletzt Sie, wenn Sie durch diese aktuelle Ausgabe blättern: Unseren Autoren und Fotografen haben sich in diesem Jahr die Tore von Châteaux geöffnet, die nicht nur für die üblichen Besucher, sondern auch für die meisten anderen Medien verschlossen geblieben wären. Das macht uns schon ein bisschen stolz, und wir danken den Betreibern herzlich für Vertrauen und Gastfreundschaft. Trotzdem – auch wir kommen im Augenblick weniger weit herum, als wir es gewohnt waren und als es hoffentlich bald wieder möglich sein wird. Zum Ausgleich gehen wir verstärkt in die Tiefe, betrachten einzelne Produzenten, Regionen und Entwicklungen gewissermaßen unter dem Vergrößerungsglas. Saint-Émilion zum Beispiel: Mit Reportagen aus gleich drei sehr verschiedenen Châteaux gibt Rainer Schäfer einen vielschichtigen Eindruck von dem Prozess der Erneuerung, den die legendäre Bordeaux-Appellation seit einiger Zeit durchlebt. Seine Schilderung des in jeder Hinsicht eindrucksvollen Faustino-Ablegers Bodegas Campillo in der Rioja Alavesa wiederum rundet das Porträt des Haupthauses im vorigen Heft ab. Anderswo in Spaniens Norden nimmt Stefan Pegatzky nun eine andere Größe von Weltrang unter die Lupe. Seit 150 Jahren trägt die Familie Torres im Penedès mit immer neuen Ideen Entscheidendes zum internationalen Ansehen des spanischen Weins bei – ihr Triumph bei der Wein- Olympiade 1979 war ein Schlüsselmoment für die gesamte Szene. Tatsächlich zieht Torres so weite Kreise, dass mit dem Blick auf fünf prägende Generationen, den Kampf gegen die Lasten des Klimawandels und das Gut Jean Leon samt seinem schillernden Gründer längst noch nicht alles erzählt ist: Fortsetzung folgt. Wie sich die Weinszene eines Landes in überschaubarer Zeit komplett umkrempeln kann, dafür ist auch unsere Heimat ein markantes Beispiel. Als vor einem halben Jahrhundert ein junger Engländer namens Hugh Johnson erstmals seinen »World Atlas of Wine« verfasste, ließ er aufhorchen, weil er Deutschland gleich an zweiter Stelle nach Frankreich nannte, die Rieslinge von Rhein und Mosel für ihre Subtilität rühmte und ihre wichtigsten Anbaugebiete in detaillierten Karten ausbreitete. Eine Wahrheit galt ihm freilich als unumstößlich: Deutsche Weine sind süß! Seither hat sich ereignet, was unser Autor Daniel Deckers in seinem historischen Panorama das »deutsche Weinwunder« nennt, und Johnson hat daran als kritischer Beobachter und Begleiter einen unschätzbaren Anteil. Wer weiß, wann und wie hiesige Winzer ohne sein frühes Lob das Selbstvertrauen für den Umbruch gefunden hätten, dessen Folgen wir heute genießen. Dann gäbe es womöglich weder die trockenen Rieslinge von Hans Oliver Spanier, mit dem sich Kristine Bäder für uns getroffen hat, noch das Heft, das Sie gerade in Händen halten. Vielleicht steht ein Umbruch dieses Ranges jetzt ja auch in der Provence an. Was dort auf Château Galoupet passiert, betrachten wir jedenfalls als eines der spannendsten Projekte unserer Zeit. Die junge Gutsmanagerin Jessica Julmy entwirft im Auftrag von LVMH einen radikalen Neuanfang, für den sie unter dem Aspekt von Niveau und Nachhaltigkeit jedes Detail überdenkt. So sollen Weine fürs ganze Jahr entstehen, die nicht bloß auf der Terrasse mit Blick aufs sommerliche Mittelmeer Vergnügen bereiten; das bringt hoffentlich auch die Macher der gängigen Industrie-Rosés ins Grübeln. Selbst ein gänzlich neues Flaschenmodell aus recyceltem Kunststoff wird da erprobt: leicht, rechteckig, stapelbar und so schlank, dass es durch einen Briefschlitz passt. In Letzterem lässt uns Nicole Miedings verheißungsvoller Bericht keinen Vorteil erkennen – wer, bitteschön, soll sich bei der versprochenen Qualität denn die Flaschen einzeln schicken lassen? Ihre Chefredaktion EDITORIAL FINE 4 | 2021 9
Laden...
Laden...
Facebook